Neues Schweizer Aktienrecht

| Paul Thalmann, Yves Ducrey

Spotlight auf die neuen Bestimmungen in der Praxis – Work in progress

Virtuelle GV von privaten Gesellschaften: Verzicht auf den UNAB – Teleologische Navigation zwischen gesetzgeberischem Muster- und Sündenfall


Gemäss OR 701d Abs. 2 i.V.m. 704 Abs. 1 Ziff. 15 können die Statuten von privaten Gesellschaften vorsehen, dass an einer virtuellen GV auf die Bezeichnung eines unabhängigen Stimmrechtsvertreters (UNAB) verzichtet werden kann.

Hinter den sprachlich verunglückten Gesetzesbestimmungen zum Verzicht auf den UNAB bei privaten Gesellschaften versteckt sich (wohl) einer der vier nachstehenden Regelungsansätze:

1. Gesetzgeberischer Musterfall:

Die Statuten räumen dem Verwaltungsrat die Möglichkeit ein, im Rahmen der Einberufung der virtuellen GV auf die Bezeichnung des UNAB zu verzichten.

Diese Auslegung ergibt sich aus dem Zusammenspiel des Wortlauts je in OR 701d Abs. 1 („…und der Verwaltungsrat einen [UNAB] bezeichnet.“) sowie in OR 701d Abs. 2 („…können die Statuten vorsehen, dass auf die Bezeichnung eines [UNAB] verzichtet werden kann.“ (unsere Hervorhebungen).

Ein mustergültiger Ansatz: Er verleiht der relevanten Statutenbestimmung bzw. den diese enthaltenen Statuten eine strukturelle Logik, funktioniert technisch was die Abläufe vor und an der Generalversammlung angeht und bietet auch sonst am wenigsten Umsetzungs­kopfschmerzen

2. Praktischer Normalfall:

Die sich aus dem gesetzgeberischen Musterfall ergebende VR-Aufgabe (den Verzicht zu beschliessen und in der Einladung zu kommunizieren) gehört notabene nicht in den (erweiterten) Katalog unentziehbarer VR-Aufgaben gemäss OR 716a.

Die GV kann also, umso mehr, als sie zur Erteilung der Ermächtigung zum Verzicht befugt ist, diesen Verzicht auch selber beschliessen.

Dies wird sie in aller Regel vorab und auf Dauer, also mittels Einfügung entsprechender Statutenbestimmung tun wollen. Der so beschlossene Verzicht gilt bis auf Widerruf mittels entsprechender Anpassung der diesbezüglichen Statutenbestimmung.

Ein Ansatz, der sich als Normalfall entpuppen dürfte. Gerade KMUs und konzerninternierte Gesellschaften dürften diesen Punkt für ein und allemal regeln wollen, insbesondere ohne damit jährlich wiederkehrend den Verwaltungsrat bemühen zu müssen. Dann also am besten: Verzicht durch GV-Beschluss, und zwar in den Statuten.

3. Dem Zufall ausgesetzter „Un“Fall:

Bei oberflächlicher Lektüre scheint der Gesetzeswortlaut zu unterstellen, dass die GV diesen Verzicht (mit Zweidrittelmehr) von Fall zu Fall – an der betreffenden GV – beschliesst. Dieser Fall ist notabene möglich. Praktisch gesehen handelt es sich dann aber wohl eher um einen „Un“Fall: Diesfalls hätte der Verwaltungsrat ja schon eingeladen, entweder auf gut Glück ohne – oder unnötigerweise mit – Bezeichnung eines UNAB. Mit Blick auf die Realitäten des gelebten Aktienrechts nahezu undenkbar ist, dass die Aktionäre im Hinblick auf die ihrem Beschluss folgende GV (und die diesbezügliche Einladung) Verzicht beschliessen.

Ein Ansatz, unter dem die Entscheidung des Verwaltungsrats über den Verzicht auf Bezeichnung des UNAB zum Pokerspiel verkommt. Wer den Pokertisch als Verlierer verlässt, baut an der Generalversammlung unweigerlich einen Unfall mit der Folge der Anfechtbarkeit.

4. Gesetzgeberischer Sündenfall:

Was das Gesetz (in OR 701d Abs. 2) nicht meinen kann: Dass der Verzicht auf Bezeichnung des UNAB auch dann einer vorbestehenden statutarischen Grundlage bedarf, wenn dieser nicht durch den hierzu ermächtigten VR sondern durch die GV selber beschlossen wird. Zu verlangen, dass die GV nur dann Verzicht beschliessen kann, wenn sie vorher eine entsprechende statutarische Verzichts-Grundlage geschaffen hat, wäre struktureller Blödsinn; schon deshalb, weil sie beides jederzeit tun kann. Dies wäre allerdings nicht der erste strukturelle Sündenfall des Gesetzgebers, vgl. hierzu die statutarische Ermächtigung zur Umwandlung von Namen- in Inhaberaktien (bzw. umgekehrt) durch die GV.

Ein sündhaft schräger Ansatz. Auch wenn sich die Aktienrechtsnovelle nicht als legislatorisches Paradies entpuppt; die krassesten statutarischen Sinnlosigkeiten wird sie dann wohl doch nicht verlangen wollen.

Paul Thalmann
Rechtsanwalt & Notar
[email protected]
Yves Ducrey
MLaw, Attorney at Law
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